Sonne und Wind lassen sich nicht steuern. Wenn sie zu den Säulen der neuen Energiewelt werden sollen, braucht das Stromsystem ein großes Maß an Flexibilität. Anbieter von Flexibilität gibt es viele – doch was sie jeweils leisten, ist manchmal schwer auseinanderzuhalten.
Wenn die Sonne scheint, beginnt die Wallbox automatisch mit dem Laden des Elektroautos. Weht eine kräftige Brise, springt die Wärmepumpe an, um den günstigen Strom zu nutzen. Auf diese Art sollen flexible Kleinverbraucher helfen, Stromerzeugung und -verbrauch jederzeit im Gleichgewicht zu halten. Nur wenn das gelingt, kann unsere Stromversorgung stabil funktionieren. Doch auf welche Art können private und gewerbliche Stromverbraucher wirklich zur Gesamtstabilität beitragen? Wo tun sie es schon heute? Und kann die gut gemeinte Anpassung womöglich sogar für unerwünschte Effekte sorgen?
„Nach Berechnungen der EU wird der Bedarf an Flexibilität von heute bis 2030 um 133% und von 2030 bis 2050 um weitere 25 % steigen“, sagt Michael Villa, Geschäftsführer des europäischen Industrieverbands smartEn. Dessen Mitglieder arbeiten daran, die Flexibilität auf der Verbraucherseite für das Stromsystem nutzbar zu machen. Dies erfordert technische Lösungen zur Steuerung flexibler Verbraucher, Dienstleistungsanbieter, die verschiedene Akteure zusammenbringen, und finanzielle Vorteile für die Verlagerung des Energieverbrauchs. Villa sieht die Verbraucher im Zentrum einer kosteneffizienten Energiewende, da sie besonders gut in der Lage sind, im Tagesverlauf Flexibilität bereitzustellen. „Das auf erneuerbaren Energien basierende Energiesystem der Zukunft wird eine sehr hohe Flexibilität auf Tagesbasis erfordern, viel mehr als auf wöchentlicher oder saisonaler Basis“, sagt er.
Wo es um Flexibilität geht, kommt meistens auch das Wort „netzdienlich“ vor, doch bisher ist es selten zutreffend. Bis auf wenige Pilotprojekte wissen flexible Verbraucher heute in der Regel nämlich nichts über den Netzzustand. Sie optimieren ganz andere Zielgrößen. Die VDE-Studie „Flexibilisierung des Energiesystems“ unterscheidet daher drei verschiedene Funktionen von Flexibilität.
Die erste und einfachste Art, von Flexibilität zu profitieren, ist die Optimierung in Bezug auf den Eigenbedarf. Sie ist in Heimenergiesystemen seit Jahren Stand der Technik. Wer eine PV-Anlage mit Batterie, Wärmepumpe und Elektroauto koppelt, nutzt meist auch ein Heimenergiemanagementsystem, kurz HEMS. Es soll vor allem den Strombezug aus dem Netz minimieren, indem es möglichst zuerst den eigenen Solarstrom nutzt. Das Komplettsystem E-SMART von M-TEC verbindet zum Beispiel Batteriespeicher, Wärmepumpe, Wallbox und noch einen zusätzlichen Heizstab für die Warmwasserbereitung. Eine Visualisierung macht sichtbar, woher die Energie kommt und wohin sie geht. Die E-Smart-Energiezentrale lässt sich über das Smartphone bedienen, um zum Beispiel Präferenzen einzustellen.
Ebenfalls in die Kategorie der Eigenoptimierung fallen Ladelösungen, die mehrere Wallboxen hinter demselben Netzanschluss kombinieren. Ihre Aufgabe ist es, die Ladevorgänge so zu koordinieren, dass die vorhandene Kapazität des Netzanschlusses eingehalten wird – denn ein neues Kabel legen zu lassen, ist teuer.
Der Strommarkt sorgt wie jeder Markt dafür, dass Angebot und Nachfrage im Stromnetz automatisch aufeinander reagieren. Diese weitere Art von Flexibilität heißt in der VDE-Studie „systemorientiert“. Gibt es reichlich Sonne und Wind, wird der Strom an der europäischen Handelsplattform EEX billiger – so das Grundprinzip. Normalerweise bekommen Endkunden davon nichts mit, da die meisten Energieversorger den Strom zu einem konstanten Preis anbieten. Einer der Pioniere für dynamische Stromtarife ist Tibber. Das Unternehmen koppelt den Arbeitspreis direkt an den Börsenwert des Stroms. Für die Verbraucher rechnet sich ein solches Preismodell dann, wenn sie auf die Preissignale auch gezielt reagieren können. Das HEMS verschiebt dafür je nach Stromtarif die Heizzeit der Wärmepumpe oder das Laden des Elektroautos.
Mittlerweile ziehen immer mehr Stromanbieter nach, spätestens ab 2025 müssen in Deutschland alle mindestens einen dynamischen Tarif anbieten, der auf die Marktlage reagiert. Voraussetzung ist in der Regel ein Smart Meter, um den Verbrauch zu den verschiedenen Zeiten erfassen und abrechnen zu können. Wie viel Geld man damit spart, ist individuell sehr unterschiedlich. Eine Studie von r2b Energyconsulting berechnete unter idealen Bedingungen im Winter bis zu 88% Senkung der Ladestromkosten für ein Elektroauto. Im Sommer fallen diese allerdings deutlich niedriger aus, da das Auto beim mittäglichen Solarstrompeak in der Regel nicht an der Wallbox hängt. Um die Kostenvorteile an ihre Kunden weitergeben zu können, haben auch manche Systemhersteller, wie zum Beispiel M-TEC, einen flexiblen Stromtarif im Angebot.
Schließt man viele der Heimenergieanlagen zu einem sogenannten Pool zusammen und erreicht so eine interessante Größe hinsichtlich der Gesamtleistung, können die Anlagen ihren Strom gemeinsam aktiv handeln – also nicht nur günstiger beziehen, sondern auch wieder verkaufen. Um die Abwicklung kümmern sich dabei sogenannte Aggregatoren, wie zum Beispiel Next Kraftwerke. Beim Koppeln der dezentralen Systeme mit dem Strommarkt hilft der B2B-Dienstleister ISON. „Wir geben den Anbietern von Heimenergielösungen, Energieversorgern und auch den sogenannten Hyperscalern die Möglichkeit, ihre Angebote durch die Verknüpfung mit dem Energiemarkt aufzuwerten“, sagt Sebastian Mahlow, Managing Director von ISON. Hyperscaler sind Anbieter von schnell skalierbaren Clouddiensten mit großer Rechenpower, die auch in der Energiebranche immer aktiver werden.
Konkret gehört zum Service von ISON einerseits eine lokal installierte Hardware fürs Messen und Steuern, aber vor allem die Prognose über Stromproduktion und -verbrauch im Haus sowie das Demand Side Management. „Wir steuern entweder das HEMS oder eine Cloud-Schnittstelle des Herstellers an, aber auch direkt die Geräte, wie Wallbox oder Wärmepumpe“, erklärt Mahlow. Die Endkunden sind dabei Teil eines Pools, der am Strommarkt teilnimmt. „Das beschleunigt die Amortisation der Anlagen im Schnitt um etwa vier Jahre“, nennt Mahlow einen Vorteil. Von all den ineinandergreifenden Schnittstellen bekommt der Endkunde in der Regel nichts mit, denn ISON agiert als White-Label-Anbieter hinter den Kulissen. Vom Kauf des Heimenergiesystems bis zur Stromabrechnung erfolgt für die Endkunden alles über die gewohnten Anbieter.
Auch die Opensource-Softwareplattform OpenEMS soll helfen, Strommarkt und Hardware zusammenzubringen. Sie ist eine Art Linux für HEMS und dank ihrer offenen Schnittstellen mit Geräten sämtlicher Hersteller kompatibel. So lassen sich praktisch alle Wallboxen, Wärmepumpen und Batteriesysteme frei miteinander zu einem Gesamtsystem integrieren. „Nur, wenn man auch in der Realität wählen kann, kann wirklich ein Markt mit Wettbewerb entstehen“, erklärt Christof Wiedmann, Vorstandsmitglied der OpenEMS Association. Dabei handelt es sich nicht um ein Unternehmen, sondern passend zum Open-Source-Gedanken konsequenterweise um einen Verein. An OpenEMS arbeiten verschiedene Entwickler und Unternehmen mit, darunter der Speicherhersteller Fenecon, der die Plattform unter anderem für seine Heimspeicher nutzt. Zusammen mit der Hardware, dem Service und dem Branding von Fenecon wird aus OpenEMS dann das Fenecon-Energiemanagement FEMS. OpenEMS kann auch auf dynamische Stromtarife oder Netzentgelte reagieren – sofern es letztere denn gibt.
Zu einzelnen Zeiten kann die Kapazität eines Übertragungs- oder Verteilnetzes an bestimmten Stellen knapp werden. Dann greift der jeweilige Netzbetreiber ein. Ein etabliertes Win-Win-Prinzip hierfür sind im Verteilnetz Sondertarife für Wärmepumpen. Die Verteilnetzbetreiber geben dabei einen Rabatt auf die Netzentgelte. Im Gegenzug dürfen sie die Geräte stundenweise abschalten, wenn ein Engpass im Netz droht. Das Haus bleibt trotzdem warm – schließlich sind die Anlagen mit Wärmespeichern ausgestattet.
Eine weitergehende Regelung ist in Deutschland noch brandneu: Der novellierte § 14 a des Energiewirtschafsgesetzes (EnWG) erlaubt den Netzbetreibern, Wallboxen und Wärmepumpen gezielt zu drosseln, wenn an einer Stelle eine Überlastung des Netzes droht. Dafür müssen die Geräte allerdings über die entsprechende Schnittstelle verfügen. Im Gegenzug dürfen die Netzbetreiber den Anschluss solcher Verbraucher nicht mehr mit dem Verweis auf eine mögliche Netzüberlastung ablehnen. Der Bundesverband Neue Energiewirtschaft (bne) nennt die Novelle einen „ausgewogenen Kompromiss“. Bis sie in der Praxis wirksam wird, werde es aber noch eine Weile dauern, so der Verband. Sowohl die nötigen Steuervorrichtungen bei den Verbrauchern als auch die Messtechnik in den Netzen sind bisher nämlich die Ausnahme.
Ab 2025 soll es in Deutschland dann auch in festen Zeitfenstern variable Netzentgelte geben. Das heißt: Zu Zeiten hoher Netzauslastung werden sie höher, bei geringer Auslastung niedriger. Wer sein Auto also unbedingt direkt nach Feierabend aufladen will – oder muss – wird dann voraussichtlich mehr bezahlen müssen. Wer einige Stunden warten kann, spart Geld. „Mit den ab 2025 geltenden zeitvariablen Netzentgelten werden erstmals Anreize eingeführt, um Netzengpässe in der Niederspannung präventiv zu verhindern. Dieses zunächst sehr einfache Modell ist wichtig, um den Einstieg in die Nutzung der vorhandenen Flexibilität zu finden und Erfahrungen zu sammeln. Aber es müssen zukünftig noch weitere Hindernisse für die Nutzung von Flexibilität abgebaut werden“, erklärt der bne. Netzentgelte seien dafür auf Dauer allerdings ungeeignet, weil sie zum Beispiel Erzeuger und Speicher nicht adressieren. Dazu brauche es eine grundsätzliche Reform der Netzentgeltstruktur. Mit der Frage, wie aus den Preissignalen der Netzentgelte und des Strommarktes ein sinnvolles Gesamtsignal wird, befasst sich ein weiterer Artikel der EM-Power Europe .
Verbrauchsseitige Flexibilität und ihre Einbindung in das Energiesystem ist ein wichtiges Thema auf der EM-Power Europe vom 19.–21. Juni 2024 in München, der internationalen Fachmesse für Energiemanagement und vernetzte Energielösungen. Informieren Sie sich vor Ort bei den Messeständen von M-TEC, ISON, Next Kraftwerke, OpenEMS Association, den Verbände bne und smartEn sowie vielen anderen innovativen Unternehmen. Weitere Messeschwerpunkte sind die Modernisierung und Digitalisierung der Stromnetze hin zum Smart Grid, die Systemintegration dezentraler Anlagen, Advanced Metering Infrastructure, Energiemonitoring und –management sowie Energy-as-a-Service. Auch auf der begleitenden EM-Power Europe Conference am 18. und 19. Juni 2024 spielt Flexibilität eine große Rolle.