Wirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck hat mit seiner Eröffnungsbilanz klare Leitplanken gesetzt. Innerhalb von 13 Jahren soll das Stromsystem klimaneutral werden. Das ist nicht viel Zeit, zumal der Strombedarf in den nächsten Jahren enorm zunehmen wird. Für den Umbau sind Investition von mehr als einer Billion Euro nötig. Zudem müssten künftig Anreize gesetzt werden, um Elektrolyseure und Backup-Kraftwerke netzorientiert zu verteilen.
„Wir starten mit einem drastischen Rückstand“, mahnt Robert Habeck, der neue Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz, bei der Vorstellung der Eröffnungsbilanz Mitte Januar in Berlin. Wenn es so weiter gehe, so Habeck, werde Deutschland seinen Treibhausgasausstoß bis zum Jahr 2030 nur um 50 anstatt der angestrebten 65 Prozent reduzieren können. „Wir müssen die Geschwindigkeit der Emissionsminderung verdreifachen, um die Klimaziele noch zu erreichen“, resümiert der Minister.
„Mit der Eröffnungsbilanz hat Habeck klare Leitplanken gesetzt“, beschreibt Patrick Graichen die Ausführungen seines neuen Chefs auf der Conexio-PSE-Konferenz Zukünftige Stromnetze, die Ende Januar online stattfand. Er ist neuer Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz und war zuvor Geschäftsführer des Thinktanks Agora Energiewende. Nun sei für alle klar, dass wir bis 2030 mindestens einen Anteil von 80 Prozent Ökostrom erreichen müssen.
Stromnachfrage steigt bis 2045 auf 1.000 Terawattstunden
Bis 2035 soll das Stromsystem insgesamt klimaneutral werden. Der Strombedarf werde indes ansteigen, erklärt Graichen. Es werde ein Mehrbedarf von zehn Prozent bis 2030 angenommen. Insgesamt steige der Bedarf von derzeit 550 auf rund 1.000 Terawattstunden (TWh) bis 2045 an. Die Treiber für den höheren Stromverbrauch sind unter anderem die stark wachsende Elektromobilität, die Nutzung des Stroms für saubere Wärme und die Umstellung auf eine grüne Industrie.
„Für das künftige Stromsystem sind mehr Stromnetze nötig, denn Wind und Solar sollen beschleunigt ausgebaut werden“, betont Graichen. 200 GW (GW) Photovoltaik und 100 GW Wind sollen es bis 2030 sein. Das verlange enorme Investitionen in Übertragungs- und Verteilnetze. Die Akteure sollten deshalb nicht auf die Regierung warten, mahnt Graichen, sondern die Logik der neuen Energiewelt bereits heute in ihren Geschäftsmodellen umsetzen. Eine Reform des Energierechts sei überfällig und er verspricht: „Eine Reform der Netzentgelte wird in dieser Legislaturperiode kommen.“ Bereits versprochen ist auch, dass die EEG-Umlage ab 2023 über den Bundeshaushalt finanziert wird, um die Verbraucher zu entlasten. Die Regierung überlegt derzeit die EEG-Umlage schon früher abzuschaffen.
Fünf Gigawatt Elektrolyseleistung bis 2030
Ausführlich soll in diesem Jahr über das neue Strommarktdesign diskutiert werden. Der Bundesverband Erneuerbare Energie (BEE) ist bei diesem Thema bereits in Vorleistung gegangen und hat eine Studie zum Strommarktdesign vorgestellt. Dabei betont der Verband die Chance, mit der Umsetzung der Energiewende eine hohe Wertschöpfung in Deutschland zu behalten. BEE-Präsidentin Simone Peter betont den Vorteil einer dezentralen, verbrauchsnahen Erzeugung durch die erneuerbaren Energien. Natürlich seien Flexibilitätsoptionen als Partner wichtig. Bis zu 100 GW Elektrolyseleistung könnten langfristig und finanziell lohnend hierzulande aufgebaut werden. Bis 2030 plant die Bundesregierung erstmal fünf GW aufzubauen.
Das Ministerium von Robert Habeck hat bereits 900 Mio. € für das neue Förderinstrument H2Global bewilligt. Damit soll der internationale Markthochlauf von grünem Wasserstoff forciert werden. In einem sogenannten Doppelauktionsverfahren wird grüner Wasserstoff auf dem Weltmarkt eingekauft und anschließend meistbietend in der EU verkauft. Das Programm soll 2024 starten.
Die Flexibilität von 9.500 dezentralen Biogasanlagen nutzen
Kurzfristig muss die Flexibilität also woanders herkommen. „Vor allem sollte man bereits heute den Fuhrpark von 9.500 dezentralen Biogasanlagen und auch von KWK-Anlagen nutzen“, fordert Peter. Letztere produzieren gleichzeitig und sehr effizient Strom und Wärme, über eine Kraft-Wärme-Kopplung. Als erstes müsse aber der zügige Ausbau der Erneuerbaren vorangetrieben werden. Dafür müsse auch die Akzeptanz in der Bevölkerung erhöht werden, um die Verfahren für die Genehmigungen deutlich zu beschleunigen. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sprach optimistisch davon, die Verfahren für Windenergieanlagen von sechs Jahren auf sechs Monate zu verkürzen. Dennoch müsse die Partizipation der Bürger weiter gewährleistet bleiben, mahnt BEE-Chefin Peter.
Die Deutsche Energie-Agentur (dena) hat in der aktuellen Netzstudie III untersucht, wie die Planung der Energieinfrastruktur verbessert werden muss, um den Anforderungen auf dem Weg zu einem klimaneutralen Energiesystem zu stemmen. Der Ausbaubedarf der Übertragungsnetze und der Verteilnetze wird weiter hoch sein. Die Flexibilitätspotenziale müssen daher auf allen Netzebenen gehoben und die Digitalisierung der Netze vorangetrieben werden. Nur so werde der zusätzliche Netzausbau reduziert. „Dafür müssen die nötigen Rahmenbedingungen geschaffen werden“, schreiben die Autoren. Außerdem sollten entsprechende Anreize für eine netzorientierte Verteilung von Elektrolyseuren und von Backup-Kraftwerken gesetzt werden.
Investitionen von 860 Mrd. € bis 2030 nötig
Kern der dena-Empfehlungen ist es, die bisher voneinander unabhängigen Planungsprozesse zu einer integrierten Planung zu vereinen. Dazu empfiehlt die Studie einen Systementwicklungsplan einzuführen, der den derzeitigen Netzentwicklungsplänen vorgelagert ist. Ebenso sollte die Infrastrukturplanung im Verteilnetz in Zukunft integriert erfolgen. Die Netze für Strom, Gas sowie Wasserstoff und Wärme sollen also gemeinsam geplant werden.
„Der Umbau ist auch eine gewaltige Investition“, weiß Carsten Rolle Er ist Abteilungsleiter für Energie- und Klimapolitik beim Bundesverbands der Deutschen Industrie, kurz BDI. Um die Klimaschutzziele bis 2045 zu erreichen, benötige es Mehrinvestitionen in Billionenhöhe. Schon für das Etappenziel bis 2030 wären Investitionen von rund 860 Mrd. € erforderlich. Das errechnet die gemeinsame Studie Klimapfade 2.0 des BDI und der Strategieberatung Boston Consulting Group. Rolle betont zudem die Bedeutung einer hohen Stromqualität für die Produktionsprozesse in der Industrie. Eine Kurzunterbrechung von wenigen Millisekunden kann beispielsweise in der Papierindustrie sehr teurer werden. Die Frequenz- und Spannungsgrenzen müssten deshalb unbedingt eingehalten werden, betont Rolle.
Der deutsche Sonderweg beim Stromsystem
„Wir haben uns in Deutschland für einen Sonderweg entschieden“, sagt Thomas Dederichs. Er leitet den Bereich für Energiepolitik beim Übertragungsnetzbetreiber Amprion. Ende des Jahres werden die letzten Kernkraftwerke aufhören, Strom zu produzieren. So gibt es der Atomausstieg der Bundesregierung vor. „Das sind planbare Großkraftwerke, die dann fehlen. Langfristig hat Deutschland sich entschieden, auf erneuerbare Energien mit Speichern und Flexibilitätsoptionen zu setzen, um die Pariser Klimaziele zu erreichen“, beschreibt Dederichs. Der nutzbare Strom, Experten sprechen von Wirkleistung, sei dabei aber nur eine Facette.
Das System braucht auch Dienstleistungen wie Blind- und Kurzschlussleistung oder die sogenannte Momentanreserve, um die Versorgungssicherheit mit Strom zu gewährleisten. Auch deshalb arbeitet Dederichs Arbeitgeber Amprion mit dem Verteilnetzbetreiber E.ON enger zusammen. „Der Ausbau der Übertragungs- und Verteilnetze soll so stärker koordiniert und damit so effizient wie möglich voranschreiten“, betont er. Dazu müsse es mehr Digitalisierung in den Netzen geben, um die Steuerung der Netze zu optimieren. Zudem sollen innovative Betriebsmittel wie dezentrale Batteriespeicher, auch Netzbooster genannt, künftig gemeinsam genutzt werden.
Wie die Stromnetze fit für die Herausforderungen der Energiewende gemacht werden können, ist auch ein Kernthema der Fachmesse EM-Power Europe und der EM-Power Europe Conference.
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