Experteninterview – „Bedarf an Flexibilität wird stark wachsen“

Experteninterview – 18. Januar 2022

Interview mit Arndt Börkey vom Bundesverband Neue Energiewirtschaft (bne) über Flexibilisierung im Strommarkt

Dass wir in unserem Stromsystem mehr Flexibilität brauchen, um die Netze bei steigender Einspeisung erneuerbarer Energien und gleichzeitig zunehmender Elektrifizierung des Wärme- und Verkehrssektors zu entlasten, ist unumstritten. Wo liegen die größten Flexibilitätspotenziale und wie lassen sie sich möglichst schnell erschließen? Antworten darauf gibt Arndt Börkey, Leiter Strom und Regulierung beim Bundesverband Neue Energiewirtschaft (bne).

Arndt Börkey, Leiter Strom und Regulierung beim Bundesverband Neue Energiewirtschaft (bne)

Welche Formen der Flexibilität im Stromnetz gibt es?

Was den Einsatz der Flexibilität angeht, ist zu unterscheiden in marktdienliche, systemdienliche und netzdienliche Flexibilität. Die marktdienliche und die systemdienliche Flexibilität meinen vor allem unterschiedliche Zeithorizonte, als systemdienliche Flexibilität gilt die sehr kurzfristig aktivierbare Regelenergie. Deshalb finde ich den Begriff der marktdienlichen Flexibilität unglücklich, denn auch dabei geht es darum, die Systembilanz jederzeit ausgeglichen zu halten, hier wird sogar der mit Abstand größte Teil des Bilanzausgleichs bereitgestellt. Bei der netzdienlichen Flexibilität geht es hingegen um die Bewirtschaftung von Netzengpässen, auch auf lokaler Ebene. Grundsätzlich können alle flexiblen Anlagen, große wie kleine, alle Bereiche abdecken.

Welche Flexibilitätspotenziale lassen sich schnell und effizient heben?

Die großen Kraftwerke werden jetzt nach und nach abgeschaltet, aber eben nicht sofort, und Gaskraftwerke, perspektivisch mit Wasserstoff betrieben, werden dem Markt noch eine ganze Weile erhalten bleiben. Hier müssen vor allem die KWK-Anlagen noch flexibler werden. Ergänzt werden sie schon heute durch flexibel eingesetzte Wasserkraftwerke und zunehmend von mit Biomasse betriebenen Kraftwerken, die bisher ihr Flexibilitätspotential noch nicht ausreichend nutzen. Dazu kommen dann noch die Verbraucher, die insgesamt ein hohes Potential haben. Und man sollte auch den Ausbau der europäischen Stromnetze nicht aus dem Auge verlieren, hier gibt es ebenfalls große Potentiale, die Flexibilität der Nachbarländer zu nutzen.

Vor allem bei den Verbrauchern sehen wir, dass man ihre Flexibilität schnell und kostengünstig aktivieren könnte. Besonders schnell lassen sich die Potentiale bei den großen industriellen Verbrauchern heben. Diese haben schon jetzt Energiemanagementsysteme, allerdings haben sie in Deutschland bisher keine Anreize, damit Flexibilität anzubieten, sondern im Gegenteil, sie werden angereizt, ihren Verbrauch möglichst konstant zu gestalten.

Der bne fordert insbesondere eine Flexibilisierung der Stromnachfrage. Welche Verbraucher haben Sie da im Blick?

Die Flexibilisierung der Nachfrage ist ein entscheidender Pfeiler der zukünftigen Stromversorgung. Damit könnte der Bedarf an regelbaren Kraftwerken zur Absicherung des Angebots deutlich reduziert und zugleich der wetterabhängige Strom aus PV- und Windanlagen besser genutzt werden. Zusätzlich könnte man auch etwas Netzausbau einsparen. Im Ergebnis ließen sich damit die Kosten des Stromsystems deutlich senken im Vergleich zu einem System, in dem die Verbraucher unflexibel sind.

Schon heute kommen eine ganze Reihe Anbieter in Frage: sowohl große industrielle Verbraucher als auch Gewerbebetriebe bis hin zu den Haushalten. Bei den Hauhalten wird das Potential in den nächsten Jahren durch die Elektromobilität und die vermehrte Nutzung von Wärmepumpen schnell zunehmen. Zusätzlich kommen auch neue Player wie Speicherbetreiber oder Wasserstoff-Elektrolyseure auf den Markt. Wir werden deshalb schon in wenigen Jahren ein insgesamt sehr großes Potential für Flexibilität haben.

Man muss allerdings die Rahmenbedingungen so ausgestalten, dass diese Potentiale auch genutzt werden. Und wenn wir beim Übergang zur Elektromobilität und bei der Einführung der neuen Technologien wie Speicher und Elektrolyseure von Anfang an eine Steuerung durch Aggregatoren mitdenken, werden wir auch diese Potentiale schnell nutzen können. Die Technologie ist schon vorhanden, sie wird aber noch nicht immer verbaut.

Warum hat sich in diesem Bereich in Deutschland bisher so wenig getan?

Der Bedarf an zusätzlicher Kapazität war bisher noch nicht so groß, wir haben noch immer Überkapazitäten bei konventionellen Kraftwerken. Aber der Bedarf wird jetzt schnell wachsen, und da auch die Aktivierung der Flexibilitätspotentiale Zeit benötigt, sind wir spät dran. Sowohl bei großen als auch bei kleinen Verbrauchern sind es vor allem regulatorische Fragen, die das Angebot von Flexibilität behindern.

Wir haben durch die Struktur der Netzentgelte, durch die Abgaben, Umlagen und Stromsteuer gerade bei Großkunden mit den Ausnahmetatbeständen bei den Netzentgelten echte Hindernisse für die Nutzung der Flexibilität. Dazu kommt, dass die Regelenergiemärkte nicht auf die Fähigkeiten der Verbraucher abgestimmt sind und damit eine Beteiligung nur mit erhöhtem Aufwand möglich ist. Hier sollte man vor allem die Präqualifikationsbedingungen für die Teilnahme an den Regelenergiemärkten überarbeiten. Nicht zuletzt fehlen uns Regeln für die marktliche Beschaffung von Flexibilitäten durch Netzbetreiber. Hier sind die Grundlagen mit dem neuen § 14c EnWG erst in diesem Jahr geschaffen worden. Die eigentliche Ausarbeitung muss noch folgen.
Vor allem für die kleinen Verbraucher ist die fehlgeleitete Digitalisierung ein massives Problem. Die bisherigen intelligenten Messsysteme geben eine Steuerung nicht her, sie sind teuer in Anschaffung und Betrieb und die für die Steuerung zusätzlich notwendigen Daten der Anlagen können damit auch nicht kommuniziert werden. Hier müssen wir aufpassen, dass wir diese Messsysteme nicht mit Standards überfrachten, da es uns neben Geld viel Zeit und Innovation kosten würde.

Der bne hat 2020 ein Quotenmodell vorgestellt für mehr Flexibilität im Verteilnetz. Flexibilität soll angereizt, nicht erzwungen werden. Können Sie uns das Modell näher beschreiben?

Das Modell adressiert die netzdienliche Flexibilität auf allen Spannungsebenen der Verteilnetze. In unserem Modell erhalten diejenigen, die an dem Modell teilnehmen, ein jährliches Entgelt dafür, dass sie zu vom Netzbetreiber vorgegebenen und vorab mitgeteilten Zeitpunkten ihre Bezugsleistung aus dem Netz, zum Beispiel einer Wallbox, um einen ebenfalls mitgeteilten Prozentsatz – die Quote – begrenzen. Dabei ist der Zeitraum, in dem diese Leistungsreduzierung wirksam werden darf, klar begrenzt und der Kunde kann eine Mindestleistung vereinbaren, die er dann in jedem Fall nutzen darf. Ein solches Modell wäre sehr schnell umsetzbar, da die Anforderungen an die Digitalisierung gering sind. Selbst im Niederspannungsnetz, wo die Netzbetreiber heute noch fast gar nicht digitalisiert sind, könnte man diese Lösung schnell umsetzen. Die Lieferanten können in diesem Modell ihre Lieferungen rechtzeitig anpassen und damit auch ihrer Bilanzkreisverantwortung gerecht werden. Und das Modell ist auch nicht anfällig für strategisches Verhalten der Anbieter.

Idealerweise würde man dieses Modell noch mit einer Reform der Netzentgelte verbinden, um sowohl die netzdienliche Flexibilität als auch die marktdienliche Flexibilität zu stärken. Der größte Teil der Kosten des Netzes wird durch das Verlegen der Leitungen verursacht, die Kosten sind also im Wesentlichen Fixkosten und nicht abhängig vom Verbrauch der Kunden. Es wäre deshalb aus unserer Sicht auch sinnvoll, die Netzentgelte grundsätzlich als fixe Infrastrukturabgabe auszugestalten. Damit wäre dann auch ein für die Systembilanz sinnvoller Mehrverbrauch möglich, d.h. die Verbraucher könnten unmittelbar von günstigen Marktpreisen profitieren. Sie könnten damit auch bei niedrigen Marktpreisen ihre Speicher füllen und später dann zu höheren Preisen wieder an den Mark zurück verkaufen. Das ist heute wirtschaftlich nicht sinnvoll, da beim Füllen der Speicher die Netzentgelte je Kilowattstunde und alle Abgaben, Umlagen und Steuern zu zahlen sind.

Wie funktioniert das Quotenmodell ganz praktisch beim Verbraucher?

Ganz praktisch wird vom Netzbetreiber an einen Lieferanten oder Aggregator regelmäßig eine Datei mit den Zeiträumen übermittelt, in denen die Leistung reduziert werden soll. Der Netzbetreiber kann dafür Netzgebiete abgrenzen und je Netzgebiet spezifische Vorgaben machen. Der Lieferant oder Aggregator gibt diese Zeiträume an das Energiemanagementsystem beim Kunden online weiter. Das Energiemanagementsystem beim Kunden sorgt dann dafür, dass die vereinbarte Leistung in diesen Zeiträumen nicht überschritten wird. Das Verhalten des Verbrauchers wird mit einem intelligenten Messsystem überwacht, damit kann der Netzbetreiber dann auch leicht feststellen, ob der Kunde sich an die Vorgaben gehalten hat. Wenn der Kunde die Anforderungen erfüllt hat, erhält er oder der Lieferant/Aggregator eine Geldzahlung. Der Netzbetreiber muss also lediglich eine einfache Datei übermitteln, das ist mit wenigen Anpassungen der Marktkommunikation möglich. Der Lieferant kann die Energiebeschaffung an die Begrenzung anpassen und damit seiner Bilanzkreisverantwortung gerecht werden. Und der Kunde kann mit der Zahlung die Kosten für das intelligente Messsystem und das Energiemanagementsystem finanzieren und darüber hinaus noch etwas Geld sparen.

Was braucht es für dessen Umsetzung?

Da das Modell recht einfach ist, braucht es nicht viel für die Umsetzung. Zuerst muss das Modell konkret ausbuchstabiert werden, das heißt, die marktliche Beschaffung nach EnWG 14c würde zum Beispiel von der Bundesnetzagentur vorgegeben werden. Diese Vorgabe müsste auch eine Ergänzung der Marktkommunikation vorsehen, in der die Zeitvorgaben ausgetauscht werden können. Dann müssen die Netzbetreiber ihre Netzengpässe analysieren und die entsprechenden Zeitvorgaben daraus ableiten. Verbraucher, die an dem System teilnehmen wollen, installieren ein intelligentes Messsystem und ein Energiemanagementsystem vor Ort. Das war es schon.

Welche Verbesserungen für die Nutzung von Flexibilität erwartet der bne unter der neuen Bundesregierung?

Nach dem EuGH-Urteil zu den Befugnissen der Bundesnetzagentur muss die Regierung vor allem sehr schnell das EnWG anpassen, um der Bundesnetzagentur die notwendigen Rechtsgrundlagen zur Festlegung neuer Regeln im Bereich der Netzentgelte zu schaffen. Die Bundesnetzagentur sollte dann zügig die Reformen angehen, denn sowohl die Ausnahmeregelung für die Großindustrie als auch die Regelungen zur marktlich beschafften netzdienlichen Flexibilität liegen jetzt in der Zuständigkeit der Agentur. Die Umlagen und Abgaben sowie die Steuern sollte die Regierung ebenfalls zügig anpassen, so dass Flexibilität eine faire Chance bekommt und zusätzlich die Messung vereinfacht werden kann und so Speicher, auch aus Elektromobilen, für Flexibilitätsangebote genutzt werden können. Beim Messstellenbetriebsgesetz sollten vor allem die Steuerungsfunktionen nicht mehr im Smart-Meter-Gateway umgesetzt werden, das BSI sollte dafür lediglich allgemeine technische, Sicherheits- und Interoperabilitätsanforderungen vorgeben.

Das Interview führte Simone Pabst.

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