Statt einiger hundert Großkraftwerke werden in Zukunft Millionen großer und kleiner Windkraft- und Solaranlagen das Herzstück unserer Energieversorgung sein. Zugleich wächst mit der E-Mobilität und dem Heizen mit Strom die Zahl der Verbraucher. Sie alle zu koordinieren ist eine komplexe Aufgabe, bei der künstliche Intelligenz helfen kann. Werfen Sie einen Blick darauf, wo selbstlernende Algorithmen heute schon zum Einsatz kommen und was in Zukunft möglich sein wird.
Die Energiewende ändert nicht nur die Art, wie wir Strom erzeugen, sondern die Grundstruktur unserer Stromversorgung. Das System wird dezentral und digital. Modellierungen zeigen, dass die Millionen von Solarspeichern, Wallboxen und Wärmepumpen eine Chance für die Netzstabilität sein können. Ein Szenario des Thinktanks Agora Energiewende rechnet damit, dass die Leistung der Heimspeicher und rückspeisefähigen Autoakkus in Deutschland bereits Ende der 2020er Jahre die Pumpspeicher-Leistung überflügeln wird. Doch ein stabiles Stromsystem wird aus diesen Anlagen nur dann, wenn sie zusammenarbeiten wie ein Bienenschwarm. Schon heute helfen selbstlernende Algorithmen und Künstliche Intelligenz dabei.
Die Strommengen, die aus Photovoltaik-Anlagen ins Netz fließen, sind so groß, dass Netzbetreiber wissen müssen, was auf sie zukommt – je genauer, desto besser. In manchen Regionen sind die Solarpark-Betreiber auch verpflichtet, die Stromeinspeisung gemäß der Netzkapazität zu steuern. Auch alle, die ihren Solarstrom direkt vermarkten, müssen die Produktion so gut wie möglich im Voraus kennen, denn das Ausgleichen von Fehlmengen ist teuer. Diejenigen, die ihren Eigenverbrauch mit Hilfe von Batterien oder steuerbaren Verbrauchern wie Elektrofahrzeugen oder Wärmepumpen optimieren, brauchen ebenfalls Informationen, um zu entscheiden, wann sie ihre Speicher be- oder entladen. Bei all diesen Anwendungen kommt bereits heute Künstliche Intelligenz zum Einsatz, um die Energieflüsse zu prognostizieren und zu optimieren.
Das fängt beim Wetterbericht an. „Maschinelles Lernen spielt bei der Strahlungsprognose schon lange eine wesentliche Rolle“, erklärt Jan Remund, Leiter der Abteilung Energie und Klima beim Schweizer Wetterdienstleister Meteotest AG. Aus Satellitenbildern sagt Meteotest mit einer Kombination von physikalischem Modell und selbstlernenden Algorithmen die Wolkenbewegungen für die nächsten Stunden vorher. „Für einige Stunden im Voraus geht das ziemlich genau. Je länger der Zeitraum, desto größer die Unsicherheit“, so Remund. Als Produkt bietet Meteotest spezielle Datenservices an, die insbesondere Strahlungs- und Temperaturdaten enthalten. Diese lassen sich in die jeweilige Monitoring- oder Steuersoftware der PV-Anlagen einbinden. Die Kalkulation der Solarstrahlung auf Grundlage der Wetterprognosen können Unternehmen dann mit speziellen Programmen selbst durchführen oder einkaufen.
Dabei entwickeln die Anbieter ihre Technologie ständig weiter. Der Augsburger Monitoring- und Prognose-Spezialist meteocontrol kombiniert zum Beispiel Daten verschiedener Wetterdienstleister in seinen Ertragsberechnungen. Und im Forschungsprojekt PermaStrom arbeiten meteocontrol, das Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und der Deutsche Wetterdienst gemeinsam daran, die Wirkung von Aerosolen wie Asche und feine Sandkörnchen auf die Wolkenbildung zu modellieren, um so die Solarprognosen zu verbessern. „Die Relevanz wurde zum Beispiel am 3 und 4. März 2021 besonders deutlich. Die Tage waren sehr stark von Saharastaub beeinflusst. Alleine an diesen beiden Tagen konnten deutschlandweit durch die optimierte Prognose Kosten von rund 3 Millionen Euro durch die Vermeidung von Ausgleichsenergiekosten vermieden werden“, sagt Stijn Stevens, Geschäftsführer von meteocontrol. Das sind die Kosten, die Energieversorger zahlen müssen, wenn sich in ihrem Bilanzkreis Verbrauch und Erzeugung nicht decken, sodass die Netzbetreiber die Lücke schließen müssen.
Weil die Netzbetreiber in letzter Instanz dafür verantwortlich sind, dass Ein- und Ausspeisung im Stromnetz in jeder Sekunde genau zusammenpassen, sind sie auf genaue Einspeise-Prognosen angewiesen. Diese beziehen sie unter anderem von meteocontrol und dem Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme ISE. Indem sie die prognostizierte Erzeugungsleistung der Erneuerbaren, die Verbrauchsprognosen und die fossile Kraftwerksleistung kombinieren, können Netzbetreiber vorhersagen, wann und wo ihre Leitungen und Trafos an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit kommen werden.
Die im Südwesten Deutschlands zuständige TransnetBW hat im vorigen Herbst mit der App „Stromgedacht“ das Thema Netzauslastung auch für die breitere Öffentlichkeit aufbereitet. Wenn es nun eng wird im Netz, ruft eine Push-Nachricht die App-Nutzer dazu auf, Stromverbrauch zeitlich zu verschieben oder zu reduzieren. Angesichts von bisher rund 50.000 Downloads dürfte sich der Effekt aber in engen Grenzen halten. Die Netzbetreiber werden also weiterhin Dienstleistungen zur Stabilisierung der Netze einkaufen müssen. Dazu gehören die Regelenergie, die kleine Abweichungen in der Leistung ausgleicht, das gezielte Verlagern von Kraftwerksleistung auf den Bereich hinter dem Netzengpass (Redispatch) sowie das Austarieren von Blind- und Wirkleistung. Damit auch große PV-Anlagen bei dieser Netzstabilisierung helfen können, besitzen sie sogenannte Parkregler. Die Geräte können sowohl Befehle vom Netzbetreiber empfangen und umsetzen als auch autonom in Abhängigkeit von lokalen Netzparametern die Einspeisung von Wirk- und Blindleistung regeln. Falls das Netz einmal überlastet sein sollte, können sie die Einspeiseleistung notfalls abregeln.
Einer anderen Logik folgt hingegen die Steuerung der meisten dezentralen Speicher und Verbraucher. Auch wenn Speicher oft als „netzentlastend“ beschrieben werden, kommunizieren sie in aller Regel bisher nicht mit dem Stromnetz. Sie sorgen vielmehr dafür, dass der lokal erzeugte Strom zu einem möglichst hohen Anteil auch vor Ort genutzt wird.
Batteriespeicher sind dabei nur ein Element. Hinzu kommen flexible Verbraucher. Wärmepumpen können bei Sonnenschein den Heizungsspeicher beladen und die Energie abends in den Heizungskreislauf abgeben. Auch das Laden von Elektroautos lässt sich oft so verschieben, dass der Anteil von Solarstrom höher ausfallen kann. Damit das gelingt, muss das System sowohl die Wetterprognose als auch das typische Verbrauchsverhalten kennen. Dabei sind die Energiemanagement-Systeme jeweils mit Verbrauchern und Speichern unterschiedlicher Hersteller in verschiedener Weise kompatibel und können je nachdem Freigabe-Signale oder Stromüberschüsse melden.
Ein Beispiel sind die Systeme von Solar-Log: Sie lassen sich grundsätzlich mit verschiedenen Batteriespeichern kombinieren. Die gezielte Verschiebung der Ladezeit aufgrund der Wetterprognose funktioniert allerdings nur in Kombination mit den Speichern des Partnerunternehmens Varta. Diese Funktion begrenzt die Einspeisespitze, wie es das Erneuerbare-Energien-Gesetz als Bedingung für die Einspeisevergütung fordert. Ist die Batterie voll, lässt sich der Solarstrom zum Beispiel für eine Wärmepumpe nutzen. Besonders effizient ist die Kombination, wenn auch die Wärmepumpe mitdenkt. Manche Geräte können etwa die vom übergeordneten Energiemanagementsystem gesendeten Ertragsprognosen für die kommenden Stunden in ihre Einsatzplanung einbinden. So wird verhindert, dass die Wärmepumpe den Wärmespeicher mit Hilfe von Netzstrom durchwärmt, wenn absehbar ist, dass eine Stunde später die Sonne genügend Energie dafür liefern würde.
In Zukunft werden all die Prosumer und flexiblen Verbraucher tatsächlich zu einem Gesamtnetz zusammenwachsen müssen. Auf dem Strommarkt gibt es dafür schon Ansätze in Form von flexiblen Tarifen. Manche Energiemanagementsysteme können diese bereits in ihre Optimierung einbeziehen.
Dabei könnten leistungsstarke Verbraucher wie Wärmepumpen und Elektroautos durchaus durch eine gezielte Steuerung das Netz stabilisieren. Eine Software für die zeitweise Rückspeisung von Strom aus den Akkus von Elektrofahrzeugen ins Netz, auch Vehicle to Grid genannt, bietet zum Beispiel Hive Power an. Auch dabei ist Künstliche Intelligenz im Spiel: Die Software FLEXO Smart EV Charging lernt, wann die Fahrzeuge gebraucht werden und in welchen Zeiten der Strom für die Vermarktung zur Verfügung steht. Damit sollen sich bis zu 1.000 Euro jährlich an Zusatzeinnahmen erzielen lassen. Der Strom kann je nach Situation direkt im Haus genutzt oder auf dem Strommarkt verkauft werden.
Schon heute ist Künstliche Intelligenz auf vielfältige Weise im Einsatz, um Erneuerbare-Energien-Systeme zu steuern und ins Netz zu integrieren. Bisher fokussieren sich die lernenden Algorithmen allerdings jeweils auf einen engen Bereich. In Zukunft werden sie lernen müssen, sich miteinander auszutauschen und aufeinander zu reagieren. Dafür muss es klare Spielregeln geben. Deren Festlegung beschäftigt Energiebranche und Politik gerade intensiv – das Ergebnis ist noch offen.
Auf der EM-Power Europe 2023 vom 14.–16. Juni in München informiert eine ganze Reihe von Anbietern aus dem Bereich Wetter- und Ertragsprognosen, Netzanbindung und Analysesoftware über Lösungen für verschiedene Anwendungsfälle. Das EM-Power Forum in Halle B5 widmet dem Thema Forecasting & Monitoring am 14. Juni eine eigene Session.