Die Energiewende ist dezentral und setzt auf zunehmende Elektrifizierung des Heizens und der Mobilität. Das fordert vor allem die Verteilnetze. Doch erst wenige lokale Netzunternehmen nutzen das Potenzial der Digitalisierung, um ihr Netz zu monitoren und optimal auszulasten.
Früher war sicher nicht alles besser, aber der Betrieb eines Stromnetzes war allemal weniger kompliziert. Die Energie floss aus Großkraftwerken zu Verbrauchern, deren Verbrauchsprofil weitgehend berechenbar war. Übertragungsnetze transportierten den Strom über die weiten Strecken. In den Verteilnetzen wurde Stufe für Stufe die Spannung abgesenkt, bis man schließlich am Hausanschluss ankam.
Heute speisen kleine PV-Anlagen Strom in die Verteilnetze, Elektroautos und Wärmepumpen erzeugen im Gegenzug Lastspitzen. Energiemanagement-Systeme und Speicher in den Haushalten ermöglichen es obendrein, den Verbrauch zu verlagern. Meist sind sie darauf programmiert, den Verbrauchern eine möglichst hohe Autarkie zu ermöglichen, gelegentlich reagieren sie auch auf Anreize im Strommarkt. In Zukunft werden sie womöglich auch Regelenergie liefern, um die Frequenz im übergeordneten Übertragungsnetz zu stabilisieren. Zu welcher Zeit wie viel Strom in welche Richtung fließt, lässt sich heute daher kaum noch mit standardisierten Profilen abschätzen.
Die Flexibilität im Netz ist im Zuge der Energiewende durchaus nützlich, wie viele Studien zeigen. Schließlich sollen die Ökostromerzeugung und der Verbrauch zeitlich so gut wie möglich zusammenpassen. Doch für die unteren Netzebenen, die Verteilnetze, sind diese immer stärker schwankenden und schwieriger berechenbaren Lastflüsse eine Herausforderung, denn sie sind nicht dafür gewappnet.
Die Automatisierung in der Mittel- und Niederspannungsebene ist weitgehend auf Pilotprojekte beschränkt, konstatiert die von der Energietechnischen Gesellschaft des Verbands deutscher Elektrotechnik (VDE ETG) eingesetzte Task Force „Hochautomatisierung von Nieder- und Mittelspannungsnetzen“, die eine gleichnamige Studie herausgegeben hat. Und während die Betriebszustände in den übergeordneten Umspannwerken bereits seit Jahrzehnten gemessen werden, weiß man wenig darüber, was in den Ortsnetzstationen wirklich vor sich geht.
Das Wissen der lokalen Netzbetreiber basiert bisher vor allem auf Berechnungen statt auf Messwerten. Die Verteilnetze mit einer spezialisierten Software zu simulieren, ist seit langem etabliert. Eine solche Netzberechnungssoftware ist zum Beispiel PowerFactory von DIgSILENT. Sie verrät, an welchen Stellen Engpässe zu erwarten sind, ob das Netz den Anschluss weiterer Erzeuger und Verbraucher verkraften kann, oder ob ein Ausbau nötig ist.
„PowerFactory enthält dafür auch eigene Modelle für Elektrofahrzeuge, Batterien oder PV-Anlagen, in die unter anderem die Sonneneinstrahlung einfließt“, erklärt Dr.-Ing. Georg Stöckl von DIgSILENT.
Wenn Engpässe drohen, sollen die Netzbetreiber künftig vermehrt „aktiv“ reagieren, heißt es in dem VDE-Papier. Im Verteilnetz selbst sind die Möglichkeiten dafür allerdings überschaubar. Einige Netzunternehmen setzen auf Regelbare Ortsnetztrafos (RONTs), um Einfluss auf die Spannung zu nehmen. Diese lassen sich in PowerFactory ebenfalls abbilden. Auch die sogenannte Vermaschung von Netzen – also mehr Verbindungen zwischen den verschiedenen Netzsträngen — erlaubt Spielräume für den Energiefluss, die sich in der Software darstellen lassen. Sie wird aber im Betrieb in der Regel nicht gezielt angesteuert, so die VDE-Studie.
Aktiver Netzbetrieb heißt im Verteilnetz vor allem: steuerbare Erzeuger und Verbraucher müssen auf Anforderung ihre eingespeiste oder entnommene Leistung anpassen bzw. zeitlich verschieben – also zum Beispiel PV-Anlagen mit Speichern, Elektroautos oder Wärmepumpen. Was das bewirken kann, hat der niederländische Netzbetreiber am Beispiel von Amsterdam untersucht. Dort soll bereits bis 2025 der gesamte Verkehr elektrisch werden. Ohne Lastmanagement hieße das, dass jede dritte Straße in der Stadt aufgegraben werden müsste, um das Stromnetz zu verstärken, erklärt Netzbetreiber Alliander.
Stattdessen setzt das Unternehmen darauf, für die einzelnen Ladepunkte lediglich eine reduzierte Mindestleistung rund um die Uhr zu garantieren. Darüber hinaus sollen die Fahrzeuge nach einem vom Netzbetreiber vorgegebenen Profil immer dann laden dürfen, wenn zusätzliche Netzkapazität frei ist. Der Schlüssel sind dabei die Akkus der Fahrzeuge, die eine zusätzliche Flexibilität ins System bringen. „Wir können so dreimal so viele Ladepunkte an derselben Leitung anschließen, ohne unser Netz zu überlasten oder Ladekomfort zu verlieren“, sagt Roy Crooijmans aus der Abteilung Netzbetrieb.
Dass eine aktive Steuerung keinen Komfortverlust bedeuten muss, zeigt sich in vielen Netzen bereits am Beispiel der Wärmepumpen. Thermische Speicher sorgen dafür, dass die Häuser auch dann warm bleiben, wenn der Netzbetreiber den Betrieb für einige Stunden unterbricht – ein Prinzip, das schon seit Jahrzehnten genutzt wurde, um den Strom der nicht abregelbaren Kohle- und Atomkraftwerke für Nachtspeicherheizungen zu nutzen. Im Gegenzug erhalten die Kunden dafür bereits heute in vielen Netzgebieten einen günstigeren Tarif für den Wärmepumpenstrom.
In Deutschland regelt in Zukunft der neue Paragraf 14 a im Energiewirtschaftsgesetz, wann und wie Netzbetreiber steuerbare Lasten reduzieren dürfen. Geschieht das häufiger, sind die Netzunternehmen allerdings verpflichtet, die Engstelle zu beseitigen und ihr Netz auszubauen.
Für das Echtzeitmonitoring benötigen klassische Netzberechnungen aufbereitete Messwerte, die bei Bedarf durch intelligente Algorithmen wie Zustandsschätzungen und Lastskalierungen ergänzt werden können, um den aktuellen Netzzustand abzubilden. Auf dieser Basis können anschließend Maßnahmen bestimmt werden, um beispielsweise Engpässe im Netz zu ermitteln.
Unter anderem auf diese Anwendung zielt PSInsight mit seiner Systemlösung GridCal. Das junge Unternehmen ist eine Ausgründung der Hochschule Düsseldorf und hatte sich eigentlich zum Ziel gesetzt, Programme für die Datenanalyse in Verteilnetzen zu entwickeln. „Es zeigte sich aber bald, dass es dafür zu wenige Daten aus den Ortsnetzen gab. Nachdem wir die Partner für die Hardware gefunden hatten, war der nächste Schritt dann die Frage nach dem Einbau“, berichtet Philipp Huppertz von den Anfängen, die bereits damals vom Fachkräftemangel geprägt waren.
Mittlerweile haben sich unter dem Namen „GridCal Alliance“ diverse Unternehmen zusammengeschlossen, um gemeinsam eine Komplettlösung zur Verteilnetzdigitalisierung anzubieten. Dazu gehören unter anderem der Infrastrukturdienstleister Omexom und der Hersteller und Spezialist für Messtechnik PQ Plus.
Die GridCal Alliance setzt durchgehend auf industrieweit erprobte und standardisierte Komponenten, um den Lock-in, also die Abhängigkeit von einer proprietären Lösung, zu verhindern. Da die allermeisten der Geräte in teils jahrzehntealte Ortsnetzstationen eingebaut werden müssen, hat PQ Plus bei der Entwicklung auch auf Kompatibilität und daher Wert auf kompakte Maße und einfache Installation gelegt.
Sicherheit ist bei den Betreibern von kritischer Infrastruktur von jeher eines der wichtigsten Themen. Bei den klassischen Netzberechnungen ist das noch verhältnismäßig einfach zu handhaben. Sie laufen auf zentralen Rechnern in der Leitstelle. Doch bei einem Echtzeitmonitoring kommt man nicht umhin, ständig eine Vielzahl von Informationen zu verarbeiten. Um die Datenflut und damit die Anfälligkeit zu reduzieren, findet die Verarbeitung mit GridCal so weit wie möglich direkt in den Ortsnetzstationen statt. „Wir bringen nicht die Daten zum Algorithmus, sondern den Algorithmus zu den Daten“, erklärt Huppertz.
An die Leitstelle gehen nicht die gesamten Rohdaten, sondern nur das, was dort unbedingt benötigt und proaktiv abgerufen wird. PSInsight setzt daher auf Edge-Computing direkt vor Ort in den Stationen statt auf externe Clouds. Dabei geht es nicht nur darum, Hackerangriffe zu vermeiden, sondern auch um die Hoheit über die eigenen Daten. „Wer auf eine Verarbeitung in der Cloud setzt, macht sich damit von der proprietären Infrastruktur eines anderen Unternehmens abhängig“, warnt Huppertz.
Doch auch wenn weitgehend Einigkeit besteht, dass Digitalisierung, Künstliche Intelligenz und Automatisierung in der Energiewende unverzichtbar sein werden, sind sie doch kein Selbstzweck, wie auch die VDE-Studie betont. Der Zweck, nämlich ein robustes Netz, muss im Vordergrund stehen. Dafür sind Daten zwar wichtig, aber nicht alle davon müssen immer und überall im Sekundentakt bereitstehen. Andere werden zwar perspektivisch benötigt, aber noch nicht heute. Daher drängt die VDE-Studie darauf, einen „unverhältnismäßigen Overhead“ in der Automatisierung zu vermeiden.
Je komplexer das Gesamtsystem wird, umso mehr gilt bei der Lösung: „Keep it simple, stupid!“