Die Zubaupläne der Bundesregierung für Ökostromanlagen sind ehrgeizig. Das Stromsystem muss hierzulande etwa 2035 weitgehend klimaneutral sein, damit auch alle übrigen Sektoren wie Wärme, Mobilität und Industrie bis 2045 grün werden können. PV-Anlagen, Wärmepumpen und E-Autos sind dabei alle auf Verteilnetzebene angeschlossen. Die Herausforderungen sind gewaltig.
Bis 2030 sollen nach den Plänen der Bundesregierung in Deutschland 360 GW an Ökostromanlagen am Netz sein. Allein 215 GW davon sollen Photovoltaikanlagen bereitstellen. Diese Veränderung in der Erzeugungsstruktur hat starken Einfluss auf den Betrieb des Stromnetzes. Denn die Ökostromanlagen sind im Vergleich zu konventionellen Kraftwerken überwiegend im Verteilnetz und in der Regel über einen Wechselrichter ans Stromnetz angeschlossen. „Daraus ergeben sich andere Anforderungen, um einen sicheren und robusten Netzbetrieb zu gewährleisten“, betont Alexander Folz, Regierungsdirektor im Bundeswirtschaftsministerium (BMWK), auf der Tagung Zukünftige Stromnetze Ende Januar 2024 in Berlin. Folz hat zusammen mit 80 Institutionen und in rund 70 Sitzungen die Roadmap Systemstabilität erarbeitet – und im Dezember 2023 veröffentlicht.
Für einen sicheren Betrieb des Stromnetzes spielen die sogenannten Systemdienstleistungen eine zentrale Rolle. Dazu zählen die Stützung der Frequenz durch Regelenergie oder Momentanreserve sowie eine Sicherung der Wechselspannung durch die Bereitstellung von Blindleistung. Dabei stellen die Synchrongeneratoren konventioneller Kraftwerke neben dem erzeugten Strom die Trägheit bereit, die stabilisierend auf Frequenzänderungen im Stromsystem wirkt. Das Ausscheiden konventioneller Kohle- und Gaskraftwerke bedeutet somit, dass deren stabilisierende Eigenschaften zukünftig alternativ erbracht werden müssen.
Erneuerbare Stromerzeugungsanlagen sowie andere Anlagen wie Speicher und Ladeeinrichtungen für E-Autos oder Anlagen der Netzbetreiber müssen hierfür weiterentwickelt werden und diese Aufgaben übernehmen. Schon im nächsten Jahr soll es voraussichtlich Ausschreibungen für Blindleistung geben. Für die Momentanreserve solle es hingegen eine feste Vergütung geben – ähnlich wie bei der Einspeisevergütung nach dem ursprünglichen Erneuerbare-Energien-Gesetz, kurz EEG genannt, sagt Folz.
Übertragungsnetzbetreiber Amprion hat Ende August 2023 ein Pionierprojekt für Systemstabilität gestartet: Auf dem Gelände der Schalt- und Umspannanlage Opladen bei Köln hat eine sogenannte Blindleistungskompensationsanlage den Betrieb aufgenommen. Die Anlage enthält unter anderem Wechselrichter und Drosselspulen sowie einen Batteriespeicher mit Superkondensatoren.
Dank dieser leistungselektronischen Komponenten der Anlage ist Blindleistung stufenlos und sehr schnell einstellbar, sodass Amprion unmittelbar auf wechselnde Bedingungen im Netz reagieren und die Spannung stabilisieren kann. Blindleistung stützt die Spannung im Netz bei der Übertragung großer Leistungen über weite Strecken – um beispielsweise Windstrom aus dem Norden gen Süden Deutschlands zu transportieren. Ein Szenario, das künftig immer häufiger eintreten wird.
Zusätzlich hat die Anlage netzbildende Eigenschaften – und das ist absolut neu im deutschen Netz. Diese spezielle Stromrichterregelung soll zukünftig auch in Photovoltaik- und Windkraftanlagen programmiert werden, so dass sie sich wie eine Spannungsquelle verhalten. Vergleichbar mit dem Verhalten von konventionellen Kraftwerken stellen sie so Momentanreserven bereit. Die Pilotanlage von Amprion kann beispielsweise 300 Mega-Var Blindleistung bereitstellen. Derzeit hat der Übertragungsnetzbetreiber schon mehrere weitere Anlagen mit Batteriespeicher im Planung, um Momentanreserve zu liefern und auf Störfälle wie potenzielle Netzauftrennungen rechtzeitig zu reagieren und damit Stromausfälle zu verhindern.
In diesem Jahr hat sich die Tagung Zukünftige Stromnetze das Partnerland Österreich ausgesucht. Die Frage, wie das Energiesystem der Zukunft aussieht, ist komplex. Das Kooperationsprojekt ZusammEn 2040 nimmt sich dieser Herausforderung an. Mithilfe eines mathematischen Modells soll die Vision von einem klimaneutralen Europa berechnet werden. Komplexe Beziehungen im Energiesystem werden durch ein sektorübergreifendes Optimierungsmodell dargestellt. Mithilfe einer Open Source Software soll die gesamte Wertschöpfungskette, auch mit einer hohen räumlichen Auflösung für einzelne Regionen, veranschaulicht werden.
Eine dazugehörige Plattform bietet zudem die Möglichkeit, die Ergebnisse mit anderen Stakeholdern auszutauschen. Der Übertragungsnetzbetreiber Austrian Power Grid (APG) hat das Modell in Kooperation mit TransnetBW und AGGM entwickelt.
Ausgehend von einem bereitgestellten Basisszenario kann das Modell eine Vielzahl an Zukunftsvisionen definieren. Die Experten von APG unterstützen andere Netzbetreiber bei der Festlegung von Annahmen und Parametern sowie bei der Interpretation der Ergebnisse. So wird sichergestellt, dass die Vision mit den europäischen und österreichischen Klimazielen im Einklang steht. Dabei werden alle relevanten Sektoren von Strom-, Gas- und Wärmesektor sowie Verkehr und Industrie berücksichtigt. Das Tool soll No-regret-Maßnahmen und den entsprechenden Bedarf ermitteln. Das sind Maßnahmen zum Aufbau einer Infrastruktur, die man auch dann nicht bereut, wenn sich Vorrausetzungen oder Ziele künftig ändern sollten. Die Nutzung eines gemeinsamen Modells erhöht so die Transparenz und verbessert damit den Austausch zwischen Netzbetreibern aus verschiedenen Ländern in der EU.
Der Umbau der Netze ist nicht aufzuhalten – und auch die Verbraucher ändern sich. Die zentrale unidirektionale Energieversorgung wird sich in eine dezentrale bidirektionale Versorgung mit vielen Stromerzeugungsanlagen wandeln. Von den in Deutschland geplanten 215 GW PV-Leistung werden fast alle Anlagen in den unteren Netzebenen im Verteilnetz einspeisen. „Bis 2030 wird die Anzahl der Ladestationen für Stromer um das 30-Fache auf 15 bis 20 Millionen wachsen“, erklärt Professor Jochen Kreusel, der als Global Head of Market Innovation für Hitachi Energy (früher die Netzsparte von ABB) arbeitet.
Wärmepumpen würden zudem auf 12 bis 15 Millionen anwachsen. Dies bedeute allein für diese beiden Verbrauchsgruppen eine installierte Leistung von rund 700 bis 900 GW. Zum Vergleich: Derzeit sind nur 45 Gigawatt installiert. Das zeige die Herausforderungen, vor denen die Verteilnetzbetreiber stünden, ganz gut, meint Kreusel. Hinzu kommt die geringe Transparenz und fehlende Digitalisierung auf dieser Netzebene.
Die Roadmap Systemstabilität stellt nun eine gute Grundlage für den weiteren Prozess. Man müsse die Flexibilität im Netz, wie sie durch den Paragraphen 14a EnWG ermöglicht wird, jedoch erstmal in der Praxis üben. Die Bundesnetzagentur hat darin Regeln für die Netzbetreiber festgelegt, um steuerbare Verbraucher wie Wärmepumpen und Wallboxen für E-Autos zügig ins Stromnetz zu integrieren. Gleichzeitig muss der Netzausbau weiter forciert werden. Das Risiko eines verzögerten Netzausbaus sei in dieser Transformation weitaus größer als das von Überinvestitionen, mahnt Kreusel. „Die Netze, die wir ab 2030 brauchen, gilt es jetzt zu bauen.“